Fachartikel

Wunderformeln für verständliche Texte?

Benutzungsfreundlichkeit und Gebrauchstauglichkeit von Texten im World Wide Web

Das World Wide Web hat sich in seiner knapp 20jährigen Geschichte fest in der Gesellschaft und der Medienlandschaft etabliert. Zu diesem Erwachsenwerden zählen auch Normierungen und Standardisierungen.

Schwarz-Weiß Aufnahme; zeigt einen Blick von der Besucher(:innen)-Plattform am Stuttgarter Flughafen mit dem durch ein Gitterzaun
This work by Michael Marek is licensed under CC BY-NC-SA 4.0.

Kurzfassung

Das World Wide Web hat sich in seiner knapp 20jährigen Geschichte fest in der Gesellschaft und der Medienlandschaft etabliert. Zu diesem Erwachsenwerden zählen auch Normierungen und Standardisierungen. Mathematische Algorithmen bestimmen den Erfolg von Websites im Netz. Wer Suchmaschinen in der richtigen Reihenfolge mit der richtigen Menge an Informationen füttert hat gute Chancen an erster Stelle gelistet zu werden. Die klare Mehrheit der Informationen besteht im World Wide Web aus Texten. Gibt es eine Formel, die mathematisch berechnet, welcher Text lesbarer und gebrauchstauglicher für den Benutzer ist? Was bedeuten Flesch, Gunning Fox und andere Lesbarkeitsindizes für die Content Creation im World Wide Web? Ein Ende der Kreativität und den Beginn der mathematischen Texterstellung? Wird Text von Maschinen für den Leser besser optimiert, als durch ausgebildete Menschen? Neben den Indizes für die Überprüfung von Textverständlichkeit von gedruckten Texten werden nunmehr auch eigene für Web Veröffentlichungen geeignete Indizes eingeführt, die den Besonderheiten dieses Mediums gerecht werden sollen. Welche Rolle spielen Semantik, Semiotik, Duktus, Lesbarkeit, Leserlichkeit und Tonalität? Dieses Tutorial soll die Sensibilität im Umgang mit Texten, sei es bei der Erstellung oder der Prüfung, schärfen. Es gilt die Unterschiede zwischen Lesbarkeit und Leserlichkeit zu verstehen und in den richtigen Kontext mit dem Begriff des „Verstehens“ zu rücken. Keywords Content Usability, Readability, Reading Index, Content Creation

Einleitung

Die klare Mehrheit der Informationen in einem multimedialen System wie dem World Wide Web besteht aus Texten. Geschriebene Wörter finden sich in der Benutzerführung (Navigation), in Hilfetexten, in Fehlermeldungen und vor allem in Texten, die Wissen und Informationen vermitteln sollen. Hinzu kommen gesprochene Wörter in Video- und Audioaufnahmen, die ebenfalls auf geschriebenen Manuskripten basieren. Die Suche nach Informationen selbst ist weitestgehend textbasiert. Antworten auf seine Fragen erwartet der Suchende meist in Form von Texten (B.J. Hansen et al., 2007). Er ist durch seine Gewohnheit geschult mit Texten zu arbeiten, sie zur Suche zu verwenden. Text ist somit immer noch die bedeutendste Form der Informationsübermittlung. So wichtig diese Form ist, so sensibel ist der Umgang mit ihr. Der Weg der Information vom Absender zum Empfänger (Wikipedia, 2009) ist ein gefährlicher Weg: Gefahren lauern allenthalben und führen oft zu Miss- und Unverständnissen. Oder härter ausgerückt: zu Fehl- oder Nichtinformation. Gerade bei einer alltäglich genutzten Ausdrucksform wie geschriebenen Texten, werden diese Gefahren oft übersehen. Menschen, die schreiben und Menschen die lesen, kommunizieren in einer besonderen Art und Weise. Nicht vom Ohr ins Gehirn gelangt die Nachricht, sondern vom Medium über das Auge gelangt eine codierte Nachricht in das Gehirn. Dort wird sie decodiert, ihr Inhalt offengelegt. Den offengelegten Inhalt gilt es nun zu verstehen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass dieses Verstehen bei der Vielzahl an Texten unterschiedlich gut gelingt. Im Dialog kann auf Anzeichen von Miss- oder Unverständnis (Signale durch Gestik oder Mimik) korrigierend reagiert werden. Geschriebene Texte wirken direktional, in eine Richtung. Korrekturen im Laufe der Kommunikation sind nicht möglich. Die Gefahren und ihre Auswirkungen sind daher umso größer. Der Frage, welche Texte denn lesbar und verständlich geschrieben sind, wird schon seit Jahrzehnten nachgegangen. Mit mathematischen Formeln wird versucht, den abgebildeten Buchstaben, in Silben, Satz und Worten, auf die Spur zu kommen. Die Frage: „Wie verständlich ist der Text?“ soll mathematisch beantwortet werden. Der wohl bekannteste Lesbarkeitsindex ist der Flesch Reading Ease (R. Flesch, 1948). Er wurde ursprünglich für die englische Sprache entwickelt.

Lesbar und verständlich?

Die Sprache, die gemessen werden soll, sorgt zunächst selbst für Verwirrung. Lesbarkeit, Leserlichkeit und Verständnis: Begriffe, die in der Betrachtung der Wirkung von Texten in ihrem Wortsinn unterschieden werden müssen. Nicht zuletzt, um den Missbrauch von Lesbarkeitsindizes offen zu legen. Im Alltagsgebrauch verschwimmt die Unterscheidung von Lesbarkeit und Leserlichkeit in eine oftmals synonyme Verwendung der Worte. Beides sind, neben anderen, aber bedeutende Kriterien für die Definition von Verständlichkeit von Texten (Wikipedia, 2009). Der Fehler, der mit der Verwendung der Lesbarkeitsindizes oftmals einhergeht, ist die Deutung von „lesbar“ in die Gleichbedeutung von „verständlich“. Lesbarkeit beruht auf der Satz- und Wortkomplexität und in einigen Indizes auch auf der Worthäufigkeit. Aus diesen Parametern sollen sich Rückschlüsse über das leichte oder erschwerte Lesen des Textes ziehen lassen. Hierbei wird „einfach“ mit „verständlich“ gleichgesetzt. Wobei sich das Verstehen auf die Decodierung der Worte, Silben, Sätze und Absätze bezieht und nicht auf den geschriebenen Inhalt. Oder frei nach Johann Wolfgang von Goethe: „Die Worte les‘ ich wohl, allein mir fehlt das Verständnis…“ (J.W.v. Goethe, 1808). Es handelt sich also um einen Versuch, den Transport des Textes vom Papier ins Gehirn zu vermessen. Wohl gemerkt nicht in einer Form wie die Zeit-Weg-Messung in Kilometern pro Stunde, sondern eher in der Definition eines leichten Übertragungsweges. Es wird also nicht angegeben, wie schnell ein Fahrzeug, beladen mit Informationen, fährt, sondern wie gut die Straße ausgebaut ist, auf dem das Fahrzeug die Informationen transportiert. Ein weiterer Teil, der diese Messung beeinflusst, ist die Leserlichkeit. Die Darstellung, das ist die Leserlichkeit, bestimmt durch Typographie, Kontrast, Farbe, Layout und Gestalt. Auch spielt bei der Leserlichkeit das Medium selbst eine bedeutende Rolle: Ob von einer Buchseite, vom Bildschirm, von Plakaten oder von Postern gelesen wird. Die „Verständlichkeit“ von Texten ist also ein komplizierteres Spiel zwischen den Faktoren, als dies alleine durch Lesbarkeitsindizes beschrieben werden kann. Die Väter der Formeln mussten um den möglichen Missbrauch ihrer Schöpfungen gewusst haben. Die Absicht, Texte nach mathematischen Größen zu erstellen, wurde von ihnen von Anfang an verurteilt. „Für lesbares Schreiben müssen mehr Variablen beim Text und beim Leser berücksichtigt werden.“ (G. Klare, 1976). Durch die relativ einfache Berechnung der Formeln im Computerzeitalter sind die mathematischen Hilfsgleichungen omnipräsent: In Textverarbeitungen suggerieren Sie dem Schreiber, ob er auf dem richtigen Weg in den Kopf seines Lesers ist und im World Wide Web werden mehr oder weniger mächtige Bewertungsautomaten angeboten, die kostenlos oder gegen eine Gebühr Websites auf Ihre „Lesbarkeit“ testen. Mal mit mehr Drumherum wie Grammatik- und Rechtschreibprüfungen, immer aber mit einer Indexierung der „Verständlichkeit“ der Texte. Eigene Web-Lesbarkeits- Indizes finden so den Weg auf den Markt. Durch die relativ einfache Berechnung der Gleichungen und einem ebenso einfachen Ranking als Resultat entsprechen diese Formeln dem Zeitgeist und dem Trend im World-Wide- Web. Sieht man doch Parallelen zum Thema Suchmaschinenoptimierung. So werden beide Themen bereits in einen Bewertungstopf geworfen. Durch dieses vielfältige Angebot werden die Fähigkeiten der Formeln überbewertet und überschätzt. Gerade so, wie es G. Klare in den 70er Jahren bereits befürchtet hatte. Ob ein Text lesbar und verständlich ist, bedarf einer weit anderen Betrachtung als lediglich einer mathematischen. Denn was berücksichtigen nüchterne Formeln bei der Bewertung von Texten?

Wie Formeln Sprache betrachten

Eines ist den Lesbarkeitsindizes gemeinsam: Sie betrachten die grundlegenden Bestandteile der Sprache in Texten. Bei Flesch ist das zum Beispiel die durchschnittliche Satzlänge. Also das Verhältnis der Anzahl verwendeter Wörter zur Anzahl der benutzen Sätze sowie die durchschnittliche Silbenzahl pro Wort: Es werden alle verwendeten Wörter gezählt und durch Anzahl der Silben im Gesamttext dividiert. Die ursprüngliche Anwendbarkeit auf die englische Sprache wurde auf andere Sprachen erweitert. So gibt es auch einen deutschen Flesch Reading Ease (T. Amstad, 1978). Der berechnete Index von Flesch reicht von 0 bis 100 (nach oben offen), während Werte von 60 bis 70 auf gut verständlichen Text hinweisen. Um die errechnete Verständlichkeit in eine bessere Relation zu bringen, weisen Indizes wie Gunning Fox Index Schuljahre aus. So lassen sich Aussagen treffen, wie: „Verständlich für Personen mit einem Ausbildungsgrad Hochschule!“. Auch der Gunning Fox Index (nur für englische Texte) arbeitet mit der durchschnittlichen Satzlänge und Wortanzahl. Seine Ergebnisse sind an das britische Schulsystem angelehnt. Die Wiener Sachtextformel (deutsche Texte) hingegen versucht mit seinem Ergebnis das Lesealter anzugeben. Ein Wert von 4 bedeutet einfaches Verstehen für Vierjährige; das Ergebnis 15 würde bedeuten, das 15jährige den Text verstehen können. Fraglich bleibt, ob Vierjährige bereits lesen können.

Beispiele

Mit dem Lesbarkeitsindex „Flesch Reading Ease“ wird eine Bibelstelle aus der Lutherbibel automatisch bewertet. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ (1. Mose, 1) Das Ergebnis: 103 Für den Weltrekordversuch der Internetseite www.evangelisch.de übersetzten Besucher des Kirchentages die Stelle für das Microblogging System Twitter so: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war finster und Gott sprach: Es werde Licht! Das war der Tag. Die Finsternis nannte er Nacht.“ Das Ergebnis: 101 Eine andere mögliche Version könnte lautet: „Erst schuf Gott Himmel und Erde. Da war’s dunkel. Er machte Licht. Das war der erste Tag. Dunkel nannte er Nacht.“ Das Ergebnis: 110 Um die mathematischen Ergebnisse noch genauer betrachten zu können, wird ein Text aus einer Rezeptsammlung geprüft. Bei diesem Text handelt es sich offensichtlich um das Werk eines Übersetzungsautomaten. „Wärmen Sie Ofen bis 400 F vor. Die Mutter braten lassen, saut- die Zwiebel in der Margarine für 10 Minuten, bis Weiche aber nicht brüniert. Löschen Sie von der Hitze und fügen Sie die restlichen Mutter Bratenbestandteile hinzu.“ Ergebnis: 60 Hier die Auswertungstabelle: 81 – 100 extrem leicht (5. Klasse) höhere Werte sind möglich 71 – 80 sehr leicht (6. bis 8. Klasse) 61 – 70 leicht (Abschlussklasse) 41 – 60 durchschnittlich (Berufsschule) 31 – 40 etwas schwierig (Mittelschule) 21 – 30 schwierig (Matura, Abitur) bis 20 sehr schwierig (Hochschulabschluss). Somit sind alle Versionen der Bibeltexte leicht lesbar, selbst die Kochanleitung rangieren noch im durchschnittlichen Bereich. Diesem kurzen Experiment kann man zwei Erkenntnisse entnehmen: Zum Einen sagt ein berechneter Wert noch nichts über den Inhalt eines Textes aus, zum Anderen ist eine Verbindung von Lesbarkeitsindex zum Schreibstil mehr als fragwürdig. Am deutlichsten zeigt das Rezept im obigen Beispiel, dass hier weder Stil noch Inhalt stimmt und dennoch eine gute Lesbarkeit erzielt wird. Inhalt als Definition eines Textes ist relativ klar. Aber was bedeutet Stil? Bei Journalisten, die in den ersten Jahren ihrer Karriere stehen, spricht man von der „Schreibe“, die sie erlernen sollen, die sie aber auch schon als Begabung mitbringen sollen. Gemeint ist ihr Stil. Eine individuelle Begabung, die sich dadurch auszeichnet, den Leser zu fesseln, ihn zu informieren, ohne ihn allzu sehr zu belasten. Das diese Begabung wiederum bei unterschiedlichen Lesern unterschiedlich ankommt, ist klar. Das nennt man Zielgruppenunterschied. Wenn Martin Luther schreibt: „… es war finster auf der Tiefe“ kann nur eine bestimmte Leserschaft etwas damit anfangen. Heutige Jugendliche werden mit der Wortform „auf der Tiefe“ weniger anfangen können. Alleine schon das Wort Finsternis wird in vielen Wortschätzen nicht mehr vorkommen oder als veraltet abgespeichert sein. Für den Theologen aber macht es sehr wohl einen Unterschied, was und wie geschrieben wurde und wird. Und für den Rechtsanwalt noch viel mehr. War es Nacht oder nur finster? Oder war es finstere Nacht? Einen Unterschied, der durch die Berechnung nicht wahrgenommen wird.

Welche Auswirkungen haben Lesbarkeitsindizes auf Texte von Webseiten?

Websites stehen unter einem besondere Druck: Sie müssen ihre Besucher schnell informieren, denn die nächste Website ist nur Millisekunden entfernt. Diese Konkurrenz setzt alle Bestandteile dieses Mediums dem Kriterium Zeit aus. Das Ziel der Website muss in Sekunden erkennbar sein, die Navigation intuitiv verstanden und die Inhalte schnell konsumiert werden können. Und das am besten von einer großen, heterogenen Menge an Menschen: Unterschiedlich in Alter, Geschlecht, Ausbildung und Vorkenntnissen. Vollkommen klar, dass Lesbarkeitsberechnungen, die ebenfalls dem Faktor Zeit zugerecht werden, auf fruchtbaren Boden fallen. Die Ableitung: leicht lesbar ist schnell lesbar, schnell lesbar ist verständlich, verständlich ist benutzerfreundlich (user friendly), benutzerfreundlich ist gleich Usability gebrauchstauglich. Der Einsatz von Lesbarkeitsindizes zur Bewertung von Onlinetexten führt in die Irre. Auch wenn Sie durch andere Werkzeuge und Messinstrumente beispielsweise zur Prüfung von Grammatik und Rechtschreibung erweitert werden. Inhalt, Didaktik und Rhetorik können von mathematischen Betrachtungen nicht erfasst werden. Eine ausschließliche Betrachtung der Textqualität führt nicht zu gebrauchstauglicheren Texten. Sie liefern ausschließlich eine mathematische Kennzahl. Die wiederum ungeachtet der Zielgruppe keine Relevanz zeigt und auch nur bedingt eine Maßgabe, eine Leitlinie für Textverbesserungen darstellt. Neben dem bloßen Lesen von Buchstaben, dem Erkennen von Wörtern und Sätzen obliegt dem Text das Befördern von Metaphern, Bildern, Bedeutungen. Diese können aber im Kopf des Empfängers nur dann funktionieren, wenn sie professionell vom Texter umgesetzt wurden. Diese Umsetzung ist eine von Maschinen nicht messbare Größe. Denn sie verbindet viele Parameter miteinander, die in der Betrachtung durch den Einzelnen unterschiedlich schwer gewogen werden. Hier sei nochmals auf die Bibelübersetzung hingewiesen und die unterschiedlichen Bilder, die sich beim Lesen der Versionen beim Betrachter ergeben.

Was die Formeln nicht berücksichtigen

Bestehen Texte nur aus Buchstaben, Wörtern, Silben und Sätzen? Ein Text erfasst mehrere Dimensionen. Zum Einen die Erkennbarkeit (Bsp. Typographie), den Satzbau und Stil und die Komplexität (Bsp. Bedeutung, Idee), also die Aussage des Texts. Alle diese Dimensionen sind ausschlaggebend für die Benutzungsfreundlichkeit. Das alleinige Betrachten einer Dimension reicht nicht aus. Die Lesbarkeitsindizes beziehen ihre zur Berechnung notwendigen Daten aber nur aus einer Dimension. Und selbst bei dieser einen Dimension wird der Aspekt des Stils im eigentlichen Sinne der Wortbedeutung außen vor gelassen. Alleine der Stil im Sinne von grammatikalischer Richtigkeit nach gewissen Maßstäben (kurze Sätze, kein Passiv) kann berücksichtigt werden. Gerade bei multimodalen Anwendungen sind die weiteren Dimensionen von größter Bedeutung. Unter dem Maß der Leserlichkeit wird die Lesegeschwindigkeit von Texten gemessen (Wikipedia, 2009). Auf diese Lesegeschwindigkeit haben unterschiedlichste Faktoren Einflüsse: Schriftart, Schriftgrad, Farbe, Layout, Textumbruch und schließlich auch das Medium selbst. So ist es längst bewiesen, dass Texte auf dem Bildschirm rund 25% langsamer gelesen werden, als dies vom klassischen Medium Papier her bekannt ist. (J. Nielsen, 1997), Eine Reduzierung, welche die nächste Einschränkung in der Rezeption auf dem Bildschirm verursacht: Um die Einbußen beim Lesen zu kompensieren, wird nicht mehr gelesen, sondern gescannt. Dies bedeutet, dass nicht mehr Wort für Wort und Zeile für Zeile bei der Informationsaufnahme berücksichtigt wird, sondern nur noch Bereiche, die für das Auge reizvoll und gewinnbringend erscheinen. Texte für Bildschirmmedien sind also einem ganz anderen Rezeptions- und Konsumverhalten unterworfen, als Texte auf dem Papier, beispielsweise in einem Buch. Alleine schon diesem Umstand werden Lesbarkeitsformeln nicht gerecht. Denn sie berücksichtigen nicht, was in den Texten steht und vor allem nicht wie. Sie erkennen keine Hervorhebungen, keinen Sinn und Unsinn, keine Aufteilung, die sinnvoll oder störend wäre. Jakob Nielsen schreibt in seinen vielen Artikeln zum Thema „Schreiben im Web“ immer wieder von den gleichen Dingen, die er bei seinen Untersuchungen feststellt: Wer Texte für das Web erstellt, sollte drei Dinge unbedingt berücksichtigen (J. Nielsen, 1997): • Kurz und prägnant schreiben • Texte für das Scannverhalten des Lesers vorbereiten • Hypertext Möglichkeiten bei der Aufbereitung nutzen Eklatant wichtige Tipps für einen benutzerfreundlichen Text im Webumfeld. Aber nur ein Tipp findet Berücksichtigung in der Bewertung durch Lesbarkeitsindizes. Nämlich der Ratschlag kurz und prägnant zu schreiben. Aus der Typographie wissen wir, dass Texte in ihrer Leserlichkeit beschleunigt oder gehemmt werden können. Durch Schriftarten, die schwer zu lesen, durch Schriftschnitte, die auf dem Medium schwer zu entziffern sind oder Schriftfarben, die keinen Kontrast zum Untergrund ergeben. Wir wissen, dass Flattersatz für das menschliche Auge schneller und besser erfassbar ist, dass Blocksatz aber aufgeräumter wirkt, dass Zeilen über 60 Zeichen nur noch schwer vom Auge verfolgbar sind, dass sich das Auge vom Unerwarteten anziehen lässt.

Interpunktion, Orthografie und Grammatik

Ein ebenfalls wichtiger Faktor zum Verständnis von Texten obliegt der Interpunktion, der Orthografie und Grammatik. Texte, die viele Rechtschreibfehler beinhalten, die Interpunktionsregeln nicht berücksichtigen, grammatikalisch falsch sind, werden vom Betrachter als nicht „glaubwürdig“ eingestuft. Zwar können und werden diese Faktoren von gängigen Schreibprogrammen berücksichtigt und geprüft. Sie funktionieren aber nur in klassischen Anwendungsfällen und versagen oftmals ihren Dienst, wenn es sich um stilistische Konstellationen handelt. Wenn es darum geht, die Grammatik im Sinne der Leserbindung und – begeisterung einzusetzen. So steht auf den Supportseiten von Microsoft Office zu lesen: „…dass die Grammatikprüfung die korrekte sprachliche Struktur bestimmter Sätze nicht ermitteln kann.“ (Microsoft Support Website, 2009). Ein Beispiel eines Textes, der immer vom automatischen Programm als korrekt gewertet wird, aber beim Leser unterschiedliche Informationen liefert: „Lesbarkeit ist neben der Leserlichkeit, der inhaltlichen Struktur und dem Aufbau von Texten eines von mehreren Kriterien für die Verständlichkeit von Texten (Textverständlichkeit).“ „Lesbarkeit ist neben der Leserlichkeit - der inhaltlichen Struktur - und dem Aufbau von Texten eines von mehreren Kriterien für die Verständlichkeit von Texten (Textverständlichkeit).“

Nicht messbare, qualitative Eigenschaften von Text

Lesbarkeitsformeln berücksichtigen in keiner Weise Sinn, Wert und Bedeutung von Wörtern. In einigen Formeln wird die Worthäufigkeit, also die Häufigkeit ihres Vorkommens in der alltäglichen Sprache berücksichtigt. Meist wird dieser Aspekt wegen zu hoher Komplexität und zu wenig Einfluss auf die Ergebnisse in der Berechnung der Ergebnisse außen vor gelassen (C. Stephens, 2000) Der Mensch in seiner Betrachtung macht dies aber schon in- stinktiv, ohne lange darüber nachzudenken. Semantik ist eine Besonderheit, bei der ein Text, oftmals nur im Zusammenhang die eindeutige Bedeutung eines Wortes preis gibt. Der Mensch, der dieses Umfeld aber intuitiv erfasst, weiß um die Bedeutung, ohne eine extra Erläuterung hierfür zu benötigen. Eine Lesbarkeitsformel kann eine Zielrichtung eines Textes niemals erfassen. Von einer Befolgung dieser Zielrichtung durch den Leser ganz zu schweigen. Gute lesbare Texte sind Bestandteil guter Usability. Sie dürfen aber nicht mit den Lesbarkeitsindizes verwechselt werden, die auf vielen Seiten per Automat zur Prüfung angeboten werden. Viele dieser „Usability- und Sitecheckroboter“ nehmen die Fleschformel als Grundlage für eine Aussage über den Wert der Inhalte der Webseiten. Dass die Formel für Papier entwickelt wurde und nicht für den Bildschirm, bleibt unberücksichtigt. Auch werden neue Indizes angeboten, die eben auf die multimediale Komponente des Webs eingehen sollen. Doch auch diese werden den Ansprüchen nicht gerecht. Gerade im Hypertextumfeld hat Text viele Aufgaben: Information, Orientierung und Hilfe. Die Motivation des Lesens ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt, der bei der Betrachtung von nutzerfreundlichen Texten unbedingt berücksichtigt werden muss. Grundlegend sind es vier unterschiedliche Motivationen, die es zu unterscheiden gibt (W. Schneider, 1994): • Zwangsleser: Liest in unvermeidbaren Fällen (Fluchtpläne, Hinweisschilder) • Angstleser: Immer dann, wenn er Angst davor hat, Konsequenzen erwarten zu müssen, wenn er etwas nicht gelesen hat (Bsp. Studenten, Journalisten…) • Lustleser: Jemandem, dem das Lesen Spaß macht. • Nichtleser: Jemand, der gar nichts liest. Je nach Motivation ist die Art des Lesens unterschiedlich, die Aufgabe des Textes eine andere. Die Herausforderung Informationen mittels Text zu transportieren wird je nach Lesemotivation unterschiedlich hoch. Hand in Hand mit der Motivation des Lesens geht auch die Zielrichtung, die Ambition eines Textes. Der Autor möchte mit dem Text, den er verfasst etwas erreichen. Ein gemeinsames Ziel mit dem unterschiedlich motivierten Leser. Auf dieses Ziel arbeitet der Schreiber didaktisch und rhetorisch hin. Entweder einem festen Plan folgend (Linear) oder mehr Freiheit dem Leser überlassend (Hypertext). Die Wege ein Ziel zu erreichen sind unterschiedlich. Je multimedialer, je freier der Leser in seiner Erreichung des Zieles durch die Mittel des Hypertextes ist, desto schwerer wird es, dieses Ziel des Textes mathematisch zu quantifizieren.

Fazit

Das Gehirn wird auch als Sitz des Verstandes bezeichnet. Doch nicht alles, was das Gehirn erreicht wird auch automatisch verstanden. Zu komplex und unergründlich sind die Funktionen der Gehirnwindungen, Nerven und Synapsen. Den richtigen Nerv zu treffen, das Gelesene für die Verarbeitung des Verstehens vorzubereiten, ist eine Aufgabe von Fachleuten. Die Erstellung von guten Texten ist eine Aufgabe von Menschen, die diese Arbeit von Grund auf erlernt haben. Und umgekehrt gilt dieses Fazit ebenso: Einen Text in seiner Güte zu prüfen, ist nicht die Aufgabe einer mathematischen Formel, sondern kann nur von einem Textfachmann vorgenommen werden. Zu viele Kriterien gibt es zu berücksichtigen, als dass diese berechnet werden könnten. Die Geschwindigkeit, mit der eine Information aufgenommen wird, sagt nichts darüber aus, ob diese Information auch dort gespeichert und verarbeitet wird. Sie sagt nichts darüber aus, ob sie überhaupt gefunden wird. Wer nach den Formeln agiert, wird sein Ziel nicht erreichen. Der geprüfte Text würde so lange einem „Cheating“ unterzogen werden, bis die Kennzahl stimmt, der erwartete Effekt aber ausbleibt. Cheryl Stephen beschreibt dieses Formeloptimieren als würde man mit einem Streichholz unter einen Thermometer halten, um einen Raum zu heizen (C. Stephen, 2000). Das soll nicht heißen, dass Lesbarkeitsindizes per se schlecht sind. Sie sind ein probates Mittel für ein erstes Feedback. Eine erste oberflächliche Betrachtung. Ohne weitere Betrachtung der Zielgruppe oder des Inhalts. Eine solche Berechnung kann eine erste Stufe zum Podest für gute Texte sein. Eine von vielen Stufen zum Podest des guten Textes. Für die Prüfung von benutzungsfreundlichen Texten bedarf es allerdings Textprofis. Sie prüfen in Form einer Expertenevaluation, eines Cognitive Walkthroughs, nach Guidelines oder mit Hilfe von Probandenbefragungen ob die Texte benutzungsfreundlich sind oder nicht. Und ein Text steht nicht für sich selbst: Auch er muss in einem Aufgaben-Ziel- Umfeld geprüft werden. Denn er erfüllt definitive Aufgaben, je nach Einsatzgebiet. Bei der Prüfung von Benutzungsfreundlichkeit von Websites gehört der Text als wichtiger Bestandteil berücksichtigt. Eine besondere Herausforderung an Usability Professionals, denn die Ausbildung an und mit Texten gehört (leider) nicht zum klassischen Ausbildungsumfeld. Diese Ausbildung lässt sich auch nicht durch Skripte zur Lesbarkeitsberechnung kompensieren.

Literaturverzeichnis

  • Flesch, R. (1948): A New Readability Yardstick. Journal of Applied Psychology, Vol 32, Nr. 3, S. 221-233
  • Hansen, B.J.; Booth, D. L.; Spink, A.; (2007, September): Determining the informational and transactional intent of web queries abgefragt am: September 2007, URL nicht mehr zugänglich.
  • Klare, G. (1976): A Second Look at the validity of Readability Formulas. Journal of Reading Nr. 8,S. 129-152.
  • Schneider, Wolf (1994): Deutsch fürs Leben. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt.
  • Wikipedia - Lesbarkeit http://de.wikipedia.org/wiki/Lesbarkeit - Abgefragt am 28. September 2009
  • Wikipedia - Leserlichkeit http://de.wikipedia.org/wiki/Leserlichkeit - Abgefragt am 28. September 2009
  • Wikipedia - Sender-/Empfängermodell http://de.wikipedia.org/wiki/Sender- Empf%C3%A4nger-Modell - Abgefragt am 28. September 2009
  • www.leichtlesbar.ch - Abgefragt am 28. Juni 2009
  • www.lingulab.de - Abgefragt am 28. Juni 2009
  • www.seitwert.de - Abgefragt am 28. Juni 2009
  • www.stilversprechend.de - Abgefragt am 28. Juni 2009

Anmerkung

Der vorliegende Text wird hier entsprechend der veröffentlichten Fassung wiedergegeben; Der Begriff Nutzer schloss und schließt selbstverständlich Nutzer:innen mit ein.

Referenz (1/2)

Wagner, Claus; Lotterbach, Silke; Marek, Michael (2009): Wunderformeln für verständliche Texte – Benutzungsfreundlichkeit und Gebrauchstauglichkeit von Texten im World Wide Web. Tagungsband UP09. Stuttgart: Fraunhofer Verlag. pp. 295-300. Tutorials

Referenz (2/2)

Wagner, Claus; Marek, Michael; Lotterbach, Silke (2010): Wunderformeln für verständliche Texte?. i-com: Vol. 9, No. 1. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH. PISSN: 1618-162X. pp. 14-18. research-article

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Michael Marek

Michael Marek

User Experience Ambassador und Web Strategist

  • Glücklicher Ehemann und stolzer Vater von zwei Töchtern.
  • Leidenschaftlicher Fotograf.
  • Enthusiastischer Musikhörer.
  • Interessierter Leser.
  • Begeisterter Wanderer und Radfahrer.
  • Bewegter Tischtennisspieler und Bogenschütze.
  • Überzeugter Europäer.
  • Spricht und schreibt Deutsch und Englisch.
  • Lebt in Tübingen, Region Stuttgart, Deutschland.

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